Eigene Erfahrungen eines Zeitzeugen


 Franz Bill berichtet:

Die Flucht von der kämpfenden Ostfront

Als die Front nur noch 20 km weg war, wurden alle noch verfügbaren Männer zum
Volksstunn eingezogen. Bei uns Jugendlichen ging das auf freiwilliger Basis. Ich sagte nein,
ich gehe nicht, denn mein Vater war in Frankreich, und ich wollte mit Mutter und meiner
14 jährigen Schwester zusammenbleiben.

Am 19. Januar 1945 morgens um 4 Uhr bekamen wir den Befehl, mit Pferd und Wagen
loszufahren. Es war schon vorauszusehen, daß wir weg müssen, denn die kämpfende Truppe
war schon bei uns, und andere Flüchtlinge aus dem weiteren Osten waren bereits unterwegs.
So haben wir bereits zwei Tage vorher Vorbereitungen für die Flucht getroffen,

Als wir kurz nach 4 Uhr aus unserem Ort Zinna, Kreis Kaiisch, damals Warthegau, losfuhren,
lag viel Schnee, und das Thermometer zeigte - 21°C. Den Wagen vollbeladen hatten die
Pferde schwer zu ziehen, aber es ging nicht weit bis zum Stillstand. Nach 2 km, wo wir auf
die Hauptstraße mußten, mußten wir bis zum Morgengrauen warten, denn die Straße war
überfüllt. Als es weiterging, war es bereits hell, und da wurden wir von Tieffliegern
angegriffen. In unserer Nähe wurde Gott sei Dank niemand getroffen. In der ersten Nacht
bekamen Mutter und Schwester einen Schlafplatz in einem Haus, ich mußte auf dem Wagen
die Nacht verbringen. Morgens waren die Stiefel an den Füßen so gefroren, daß ich kaum
gehen konnte. Bei der Weiterfahrt war es sehr glatt auf der Straße, und die Pferde sind öfters
hingefallen. Auch war es für die Pferde schwer, denn die Räder waren eingefroren und haben
sich nicht gedreht, sie sind auf der Straße gerutscht.

In der darauffolgenden Nacht konnte man auch nicht schlafen, denn wir waren mit vielen
Leuten in einem Raum. Als wir am nächsten Morgen in Richtung Lissa losfuhren, holten uns
die Volkssturmmänner, von der Front kommend, ein. Sie hatten mit Russen Kontakt
bekommen und waren voller Angst, Ich sehe heute noch, wie Onkel Theodor ankam, sich auf
den Wagen setzte und zur Tante Liesel sagte: Jetzt los, denn die Russen sind gleich hinter uns.
So sind wir den ganzen Tag schnell gefahren; es war möglich, denn die Straße war hier nicht
sehr belegt. Abends wollten wir etwas rasten und gingen in einen Bauernhof, der leer war,
aber durch die allgemeine Unruhe unter den Leuten, Angst, die russische Armee könnte uns
doch einholen. So fuhren wir weiter. Unsere Nachbarin wurde mit ihren zwei kleinen Kindern
eingeholt, und sie hat uns später berichtet, daß sie Schreckliches erlebt hatte. So mußte sie im
Stall schlafen und wurde täglich mehrmals vergewaltigt. Wir hatten hier auch kein Glück,
denn einige Kilometer weiter war die Straße so verstopft, daß wir die ganze Nacht auf einer
Stelle standen. Eine Frau hat vor Angst den Verstand verloren, hat dummes Zeug geredet. Die
Verzweiflung wuchs immer mehr, aber es ging nicht weiter. Gegen morgen sahen wir, daß
weiter vorn zwei Straßen zusammenkamen, und die Menschen auf der anderen Straße haben
uns nicht draufgelassen. Ich kurz entschlossen, bin über das gefrorene Feld gefahren, und so
| kam ich etwas weiter doch auf die Straße, So kamen wir weiter, wenn auch schlecht und auch
' deshalb, wir kamen vom flachen Land und hatten keine Bremse am Wagen, hier aber war es
schon bergig, und so kam es zu Unfällen. Alles, was nicht mehr konnte, landete im
Straßengraben. Wagen, tote Pferde und sonst allerhand Sachen. Die Nacht mußten wir
durchfahren; obwohl es eine sternklare Nacht war, hat uns ein Panzer den Wagen zu Bruch
gefahren. Wir hatten Werkzeug bei uns und so konnten wir ihn wieder reparieren, dann ging
es weiter. Gegen morgen kamen wir in Lissan an, und wir hatten deshalb Hoffnung, weil wir
an Schildern lesen konnten, daß sich die Panzerabteilung sammeln sollte, Wir dachten, sie
werden die Front aufhalten; aber zu unserer Enttäuschung, als sie sich gesammelt hatten,
zogen sie an uns vorbei nach Westen, und wir waren wieder mitten in der Front. Alles strömte
nach Westen, Soldaten auch zu Fuß, Reiter, ich glaube, es waren freiwillige Kosaken, die auf
unserer Seite kämpften, Soldaten mit Pferdewagen, Autos, die meisten, die zu Fuß waren,
hatten nicht nur keine Waffen mehr, sondern auch mangelhafte Uniformen an-

Ich hatte als Kind die deutsche Wehrmacht 1941 gegen Russland marschieren sehen, da war
alles zackig und jetzt, ein trauriger Haufen,

Fünf Tage und Nächte haben wir kaum Schlaf bekommen, und als wir jetzt In einen Ort in der
Nacht ankamen, wurde es ruhiger mit dem Schießen, so wollten wir uns etwas warmes zu
essen machen und schlafen, denn die ganze Zeit hatten wir gefrorenes ßrot und Fleisch
gegessen. Wir wollten gerade Feuer anmachen, da fuhr ein Panzer mit dem Lautsprecher und
sagte, es rette sich wer kann, die russische Front ist hinter uns. Viele wurden kopflos, hatten
selbst den Wagen mit Pferden stehen lassen, weil sie Angst hatten, daß sie durch die
verstopften Straßen nicht weiterkämen, und sind zu Fuß weiter. Wir fuhren mit dem Wagen
die ganze Nacht, Am nächsten Mitlag waren wir an der deutschen Grenze und nun hinein
nach Schlesien. Ich war so müde und hätte im Stehen schlafen können. Hier In Schlesien
waren die Leute auch schon geflüchtet, das Vieh hatten sie losgebunden und es lief im Freien
herum. Als wir zu einem Gutshof kamen, lief auch hier das Vieh frei herum. Wir gingen In "\-
das Haus, um vielleicht Jetzt etwas Essen warm zu machen. Als wir in die große Küche
kamen, hatten Soldaten ein Schwein am Tisch liegen und waren am Braten. Die Frage an uns:

habt ihr Brot? Wir hatten, und so bekamen wir gebratenes Fleisch. Nach dem Essen ging es
gleich weiter, denn wir wollten vor dem Abend noch über die Oder, da war man etwas
sicherer. Wir hatten noch nicht mal Zeit, die Toten zu beerdigen, denn von der Familie
Persack ist der Opa gestorben. Den Leichnam haben sie drei Tage auf dem Wagen
mitgefahren, bis wir ihn beerdigen konnten. Abends kamen wir an die Oder, die Brücke war
noch nicht gesprengt. Vor der Brücke waren einige deutsche Soldaten aufgehängt, die
flüchten wollten. Wir fuhren über die Brücke, und auf der anderen Seite der Oder kamen wir
gleich nach Neusalz, In dieser Stadt waren die Leute noch nicht geflüchtet, und wenn ich an
das Chaos der zurückliegenden Tage denke, fast ein nonnales Leben, wir hatten aufgeatmet.
Jetzt nach 7 Tagen und Nächten auf der Straße, kaum Schlaf bekommen, konnten wir in
einem Haus in einer wannen Küche auf dem Fußboden erstmals richtig ausschlafen. Nur die
Pferde bekamen keine Unterkunft und mußten bei dieser Kälte draußen bleiben. Als ich
morgens hinauskam, hatten sie gezittert, mir haben sie leid getan. Wir konnten uns ein
warmes Frühstück machen, und dann ging die Fahrt weiter in Richtung Sorau und ^
Sommerfeld, Überall waren hier die Leute noch zu Hause. Wenn wir jetzt nicht mehr so
Angst vor der Front hatten, so kam mehr die Sorge vor der Zukunft auf. Was soll werden?,
fragten wir uns, da wir ja Bauern sind, ohne Hof hoffnungslos. Wir hatten gute, aber auch
böse Menschen angetroffen, als wir eines Abends nach einer Übemachtungsmogllchkeil bei
einem Bauern fragten, sagte er Ich habe keine Möglichkeit, und wenn ihr nicht rindet, dann
hängt euch auf Wir blieben hart und wichen nicht, dann konnten wir doch übernachten, er
war nachher sogar zugänglich.

Die Straßen waren immer noch glatt. Es gab keinen Schmied, so mußte ich selbst die Pferde
beschlagen, obwohl ich das noch nie gemacht hatte. So sind wir nach 12 Tagen im Kreis
Wmenberg angekommen.

Wenn ich heute so nachdenke, dann ist der Verlust der Heimat nicht der größte Verlust von
materiellen Dingen, wie Haus und Hof, sondern das Zusammenleben der Großfamilie, der
guten Nachbarn und der ganzen Dorfgemeinschaft mit den schönen Sitten und Gebräuchen.
Das ist wirklich verlorene Heimai. Wir sind auf der ganzen Welt zerstreut, in Deutschland,
Canada usw.

Als l6 jähriger habe ich das erlebt und in diesem Jahr werde ich 69,
m 16. Februar 1945 ging unsere Odyseefahrt zu Ende, Wir waren glücklich, in Sporen
wieder eine neue Heimstätte gefunden zu haben. Folgende Familien aus dem ehemaligen
Machlinlec haben in Sporen eine neue Heimat gefunden:

Karl Köstler, Lorenz Köstler, Franz Köstler, Maria Rehmann, Johann Kohl, Johann Fleisner,
Johann Köstler, Karoline Mühlhauer, Mathilde Kohl, Josef Petemek, Ignaz Mühlbauer,
Klemens Bill, Lorenz Bill.

Heute im Jahr 2000 wächst bereits die 4. Generation heran.

Anton Rehmann
Ortschronist von Sporen / Kreis Bitterfeld

Die einzelnen Berichte wurden zusammengestellt und entnommen aus dem

1. Organ des Hilfskomitees der Galiziendcutschen
„Das heilige Band"

Ausgabe; Juli / August / September 1999
April / Mai 2000

2. Berichte von Pfarrer Weber und Franz Bill
sowie aus eigenen Erfahrungen